Der Imagination Raum lassen. Oder: Wie real ist real?

Stefan Haupt, Béatrice Bakhti
Stefan Haupt, Béatrice Bakhti
Anna Luif, Michael Hammon
Anna Luif, Michael Hammon
Yaël André, Edgar Hagen
Yaël André, Edgar Hagen
Susanna Schwager
Susanna Schwager

Von Miklos Gimes, journaliste et cinéaste – Juli 2015


ROMANS D’ADOS heisst eine sechsstündige Dokumentation des Westschweizer Fernsehens über pubertäre Jugendliche. Der erste Dreh war 2003, sieben Jahre später wurde der Film ausgestrahlt. Der Titel verspricht nicht zu viel, ROMANS D’ADOS hat die Intensität eines Romans, obwohl er nichts anderes macht, als mit den klassischen Mitteln des Dokumentarfilms den Alltag einiger Jugendlicher über einen Zeitraum von sechs Jahren zu beobachten. Man fühlt sich den Figuren nahe, als wäre man Mitglied der Familie.

Ist die Trennung zwischen den Genres Dokumentar- und Spielfilm künstlich?

Diese Frage war der Hintergrund des dreitägigen, von Anna Luif und Edgar Hagen konzipierten Seminars ‹Der Anker im Realen: Inszenierung und dokumentarisches Arbeiten an der Schnittstelle von Spiel- und Dokumentarfilm›, das im Juni 2015 in Bern stattgefunden hat. Es referierten die RegisseurInnen Béatrice Bakhti, (ROMANS D’ADOS), Stefan Haupt (DER KREIS), Yaël André (QUAND JE SERAI DICTATEUR), der Kameramann Michael Hammon – er hat als Dokumentarfilmer mit Pepe Danquart ge-arbeitet und später den fiktionalen Stil von Andreas Dresen mitgestaltet – und ausserdem die Autorin und Nichtfilmerin Susanna Schwager, die mit ihren dokumentarischen Romanen einen eigenen literarischen Weg geht. Wie schafft es Béatrice Bakhti in ROMANS D’ADOS, dass der Zuschauer das Gefühl hat, der Film sei inszeniert? Die Dialoge sind so ehrlich und direkt, als hätte jemand ein Drehbuch geschrieben, um die Konflikte der Halbwüchsigen auf den Punkt zu bringen. Ihr Ansatz hat nichts mit Inszenierung zu tun, sondern mit der konsequenten Umsetzung on ein paar fundamentalen Prinzipien des Dokumentarfilms. Die Dokserie ist ein Lehrbuchbeispiel für die Weisheit, dass Dokumentarfilme in erster Linie Gefühle transportieren. Alles andere, die ideologischen, moralischen, historischen Bezüge, kommen erst nachher.

Dabei wollten sich die MacherInnen von ROMANS D’ADOS nicht verstecken und still beobachten, wie eine Fliege an der Wand. Im Gegenteil, sie wollten Präsenz zeigen. Die Kamera lief, und irgendwann wurde sie vergessen. Deshalb wurde auch beim Ton durchwegs mit der Perche gearbeitet und nicht mit Ansteckmikrofonen: um die Visibilität der Filmemacher hervorzuheben. Wer Emotionen einfangen will, braucht Zeit. Es war deshalb entscheidend, dass der Sender RTS unbürokratisch und grosszügig ins Projekt einstieg.

Die belgische Dokumentarfilmerin Yaël André hat hunderte Rollen von Super-8-Filmen zusammengeschnitten und mit Text und Musik unterlegt; QUAND JE SERAI DICTATEUR ist ein befreiender Film, der das Banale und das Künstliche neu zusammenführt. «Man muss der Imagination der Menschen Raum lassen, aber ihnen gerade so viel Information geben, dass sie nicht verloren sind», sagt Yaël André. Sie erinnert uns politisch korrekten Schweizer daran, dass wir Filmemacher mit allen Freiheiten sind. Yaël André ist eine Medizin, eine Droge. «Man macht die Filme, die man machen muss», ist einer ihrer Kernsätze.

Stefan Haupt wollte mit DER KREIS ursprünglich ein historisches Drama über einen Schwulenclub in den Fünfzigerjahren drehen, aber aus finanziellen Gründen baute er dokumentarische Elemente ein, die den Film immer wieder in die Gegenwart holen. Damit stellte sich in der Diskussion die Frage, ob das Dokumentarische die Glaubwürdigkeit einer Fiktion erhöht, die zwar recherchiert ist, aber Fiktion bleibt. Oder wirkt nicht vielmehr das Dokumentarische als emotionaler Verstärker der fiktiven Geschichte und macht sie so ‹wahrer›? Am Ende des Gesprächs verriet Stefan Haupt, dass die dokumentarisch festgehaltene Wahrheit bereits von neuen Äusserungen der Protagonisten überholt worden sind, die die Türe zu einem neuen Thema aufgestossen hätten. Deshalb wurden sie im Film weggelassen. Mit anderen Worten: Die dokumentarisch belegte Wahrheit ist meistens nur eine Momentaufnahme, eine provisorische Wahrheit.

Michael Hammon, Kameramann von Andreas Dresen, schilderte einen diametral entgegengesetzten Ansatz; mit Mitteln der Inszenierung erzeugt er in der Fiktion eine Authentizität, die dokumentarisch wirkt. Hammon erzählte, wie Schauspieler und Team wochenlang improvisieren, wie jeder Take anders wird, wie er mit der Kamera dreht, als wäre er in einer dokumentarischen Situation.

Ihre ganz eigene Antwort auf die Frage von Realität und Fiktion gibt die Schriftstellerin Susanna Schwager. Ihre Texte sind ein Resonanzboden für Geschichten die ihr erzählt werden, und die sie zu einer eigenen Sprache verdichtet. Eine Sprache, die authentisch wirkt, aber gleichzeitig kunstvoll dramatisch aufgeladen ist.

Realität? Fiktion? Solange wir mitfiebern, ist vieles erlaubt. Wir machen Filme, nicht die Britische Enzyklopädie.

Miklos Gimes, Journalist und Filmemacher

 


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