Schreiben mit 4 Händen: Interviews

Lionel Baier : « Ein Koautor verhilft mir zu einem distanzierteren Blick auf meine Arbeit »

Lionel Baier wurde 1975 in Lausanne, Schweiz, geboren. 2004 drehte er seinen ersten Langspielfilm, Garçon stupide.

Interview von Patrick Claudet, September 2006

/script: Lionel Baier, Sie haben das Drehbuch für Ihren ersten Spielfilm Garçon stupide, mit Laurent Guido zusammen geschrieben. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Lionel Baier: Ich habe mit ihm schon bei meinen zwei vorhergehenden Dokumentarfilmen, bei La parade (2001) und bei Mon père, c'est un lion (2002) zusammengearbeitet. Wir haben gemeinsam die Drehvorlage verfasst, und er hat mich während des ganzen kreativen Prozesses unterstützt -sogar um die Tonaufnahme hat er sich gekümmert.

Für Garçon stupide, habe ich ihm etwa 50 Seiten Notizen gegeben, Überlegungen zu den Personen und darüber, was ihnen zustoßen könnte. Dieser Text, den wir zusammen überarbeitet haben, war dann die Basis für das Dossier, das wir für die Drehbuchförderung eingereicht haben. Von diesen paar Seiten ist alles ausgegangen. Die Sichtweise von Laurent Guido ist um so interessanter, weil er eben kein Drehbuchautor ist – er ist Professor an der Universität Lausanne. Und insofern komme ich durch ihn zu einem distanzierten Blick auf meine Arbeit.

Können Sie die verschiedenen Phasen beschreiben, in denen das Drehbuch entstanden ist?

Wir haben uns zuallererst an die Abfassung einer Dialogfassung gemacht. Die Arbeit hat eineinhalb Jahre in Anspruch genommen. Aber je weiter wir vorankamen, desto schrecklicher wurde der Text. Das ging so nicht. Dann verwarfen wir alles und versuchten, die Geschichte neu zu durchdenken, indem wir den ganzen Stoff nochmals gemeinsam durchkämmten und uns auch die Handlungsstränge und Anekdoten erneut vornahmen. Dann sind wir zwei Wochen nach Schottland gefahren und haben während dieser Zeit ununterbrochen geschrieben. Leider war das Resultat nach diesen zwei Wochen immer noch schlecht.

Den Ausschlag für die Wendung gab erst die Begegnung mit dem Schauspieler Pierre Chatagny. Indem wir einige Elemente aus seinem Leben in die Geschichte integrierten, bekam der Text plötzlich eine ganz andere Dimension. Wir machten einige Probeaufnahmen, und dann begannen wir, ohne Finanzierung zu drehen. Parallel dazu haben wir weitergeschrieben.

Liegt Ihren Dreharbeiten eine fertige Dialogfassung zugrunde?

Nein. Ich komme mit einer Art Séquencier daher, der in zwei Spalten organisiert ist. Die Szenen sind darin zweigeteilt, und zwar nicht in Abhängigkeit von den Locations, sondern danach, welchen Sinn, welche Aussage sie transportieren sollen. Ich schreibe sozusagen um thematische Blöcke herum, was mir erlaubt, mich vom Joch des klassischen Drehbuchs zu befreien.

Wer schreibt dieses Dokument?

Normalerweise kümmere ich mich selbst darum. Dann, während des Drehs, mache ich mich an die Dialogfassung. Einige Tage, bevor wir eine Szene drehen, manchmal erst auch am Abend zuvor, gebe ich den Schauspielern einen Text mit Dialogen und Regieanweisungen, bitte sie aber ausdrücklich, den Text nicht auswendig zu lernen.

Was ist der Vorteil dieser Methode?

Ich glaube einfach nicht an das Drehbuch. Damit meine ich, dass mich das "perfekt ausgearbeitete Drehbuch" zutiefst langweilt. Ich habe davor sogar ein wenig Angst. Ich glaube, dass ein Drehbuch unperfekt sein muss, damit ich es drehen kann. Das ermöglicht es mir nämlich, die Szenen offener zu halten. Ich weiß von mir auch, dass ich unter dem Druck der Situation besser bin. Und was die Dialoge betrifft, halte ich es für richtiger, die sprachlichen oder ausdrucksmäßigen Besonderheiten, die die Schauspieler in ihr Spiel einbringen, zu belassen. Ich füge sogar bewusst Passagen oder Wendungen ein, die sie in ihrem Alltagsleben benutzen.

Heißt das, dass sie für die Improvisation appellieren?

Ein wenig vielleicht. Bis zu einem gewissen Grad lasse ich die Schauspieler zwar in ihrer eigenen Sprache reden, aber ich beschreibe vorweg alle Situationen sehr detailliert. Beim Dreh filme ich alles, und danach, beim Schnitt, sortiere ich wieder aus.

Lehnen Sie eine fertige Dialogfassung also komplett ab?

Nicht wirklich. Ich fände es toll, ein Drehbuch nach klassischer Manier zu schreiben und es dann mit einem Team von 100 Leuten abzudrehen. Aber ich tue eben das, was ich kann. Ich komme vom Dokumentarfilm her, ich habe keine Filmhochschule besucht, und ich drehe meistens mit einem sehr kleinen Team. All das erklärt, warum ich diese Methode des empirischen Arbeitens bevorzuge.

Wo hat bei Ihnen der Autor seinen Platz?

Bei Garçon stupide, hat Laurent Guido ganz am Anfang und dann auch wieder beim Schnitt eingegriffen. Das ist für mich eine sehr bedeutende Phase, denn immerhin habe ich sehr viel Material mitgebracht. So ein Film entsteht wirklich auf dem Schneidetisch.

Sind Sie bei Ihrem letzten Film, bei Comme des voleurs, genauso vorgegangen?

Bei diesem Film habe ich mit Marina de Van zusammengearbeitet. Marina hat unter anderem schon mit François Ozon und Pascal Bonitzer gearbeitet. Ich wollte mit ihr zusammenarbeiten, weil sie Schauspielerin und gleichzeitig Regisseurin ist. So jemanden brauchte ich, weil ich in dem Film ja selbst mitspiele. Aber konkret habe ich alleine geschrieben. Während dieser Zeit haben wir uns regelmäßig in Paris getroffen. Sie machte mir zwar Vorschläge, hat aber selbst nichts geschrieben und überließ es mir, meinen Text zu überarbeiten.

Wie sehen Sie die Rolle der Drehbuchautoren in der Schweiz?

Ich denke, dass es da einen großen Unterschied zwischen der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz gibt. In Zürich kann ein Drehbuchautor darauf hoffen, für einen Kinofilm zu schreiben, als Autor also ein komplettes Drehbuch zu verfassen. In Lausanne ist er zwangsweise Koautor, vielleicht auch script-doctor. Er wird, außer für das Fernsehen, kaum ausschließlich als Drehbuchautor arbeiten. In der französischen Schweiz sind alle Regisseure gleichzeitig auch die Autoren ihrer Filme. Das ist eine frankophone Gepflogenheit. Ich glaube, dass ich in der Romandie keinen einzigen Drehbuchautoren kenne, der sich ausschließlich dem Schreiben widmet und der nicht Ambitionen hat, selber Regie zu führen.

 


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